ETWAS NERVOSITÄT GEHÖRT ZUM HOCHSCHUL-START DAZU. SCHLIESSLICH ERWARTET DIE ERSTSEMESTER EINE MASSE AN NEUEN LEUTEN UND GENAU SO VIEL LERNSTOFF. DOCH WAS, WENN DER RESPEKT VOR DEM STUDIUM IN ANGST UMSCHLÄGT? ÜBER DIE „EHRFURCHT VOR DER WISSENSCHAFT“ HAT LEO MIT EINER EXPERTIN GESPROCHEN.
von Leonard Kehnscherper
Was erwartet mich an der Uni? Werde ich mich mit den Kommilitonen und den Professoren verstehen? Wie schwer werden die Prüfungen? Diese und ähnliche Fragen stellen sich alle angehenden Studierenden.
Dem einen Erstsemester ist dabei mehr, dem anderen weniger bange. Besonders junge Erwachsene, die als erste aus ihrer Familie studieren, haben es am Anfang schwerer als Studienanfänger aus Akademiker-Familien. Aber woher kommt eigentlich die „Ehrfurcht vor der Wissenschaft“ und ist sie auch begründet?
Der „akademischen Habitus“
„An der Hochschule fühlen sich viele Kinder von Nichtakademiker-Eltern fremd, weil ihnen zum Beispiel der ‚akademische Habitus’ fehlt“, erklärt Katja Urbatsch, Gründerin und Geschäftsführerin von ArbeiterKind.de – einem Netzwerk, das Jugendliche aus Familien ohne Hochschulerfahrung zum Studium ermutigt.
Zum „akademischen Habitus“ gehört zum Beispiel, die vielen lateinischen Uni-Begriffe zu kennen – wie zum Beispiel „Kommilitone“ (= Studienkollege) oder Abkürzungen wie „c.t.“ (lat. cum tempore = Die Vorlesung beginnt eine Viertelstunde später und hört eine Viertelstunde früher auf). Zum Habitus gehören aber auch Verhaltensweisen, wie den Professor in E-Mails korrekt mit „Sehr geehrter Herr Prof. Dr.“ anzuschreiben oder nach der Vorlesung nicht zu klatschen, sondern zu klopfen.
„Was willst du denn später damit machen?“
Allgemein stoßen Erstis aus der Mittelschicht oder finanziell schwächeren Familien auf weitere Hürden. „Es gilt viel zu organisieren. Das beginnt schon beim Umzug in eine andere Stadt und der Wohnungssuche“, sagt Urbatsch. Zudem wird der Antrag auf die Ausbildungsförderung BAföG manchmal erst spät im Semester bewilligt. In der ungewissen Zeit können Studis schon mal in Geldnot geraten. „Vielen erscheint deshalb eine Ausbildung attraktiver. Weil sie in einem klar definierten Zeitraum stattfindet und man oft sofort etwas verdient“, so Urbatsch.
Laut der aktuellen Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks (DSW) beginnen von 100 Akademiker-Kindern 77 ein Hochschulstudium. Von 100 Nichtakademiker-Kindern sind es nur 23. „Nichtakademiker-Kinder trauen sich ein Studium insgesamt seltener zu. Vor allem, weil es ihnen an Selbstbewusstsein und Mut zum Risiko mangelt“, sagt Urbatsch.
Aber auch, weil sie Angst haben, sich von ihrer eigenen Familie zu entfremden. Von den Verwandten dürfen sich manche Erstakademiker nämlich Sprüche anhören wie: „Denken ist ja schön und gut. Aber wann fängst du denn an zu arbeiten?“ Oder der Klassiker: „Was willst du denn später damit machen?“
Vorm Bewerben schon mal in eine Vorlesung
Ein weiteres Phänomen ist, dass sich sogenannte „Bildungs-Aufsteiger“ deutlich seltener für besonders angesehene Studiengänge wie Medizin oder Jura bewerben. Das zeigt die Sozialerhebung des DSW ebenfalls. Stattdessen entscheiden sich Aufsteiger häufiger für Soziale Arbeit oder Lehramt als Studienfach. Außerdem zeigt die Erhebung, dass Kinder von Nichtakademiker-Eltern nach dem Bachelor häufiger auf einen Master verzichten oder nach einem Master deutlich häufiger auf die Promotion.
Urbatsch rät Nichtakademiker-Kindern zunächst, sich vom großen Prestige eines Studiengangs nicht abschrecken zu lassen: „Nichtakademiker-Kinder sollten auf die eigenen Interessen und Begabungen schauen und sich gut über das Studienfach informieren.“
Die angehenden Studis sollten sich ihre Wunsch-Hochschule vor der Bewerbung persönlich ansehen. Vor Ort können sie sich in eine Vorlesung setzen und so ein besseres Gefühl für das Studium bekommen. „Bei ArbeiterKind.de gibt es viele Ehrenamtliche, die beispielsweise Jura oder Medizin studiert haben und Studieninteressierten erläutern können, was genau auf sie zukommt“, ergänzt Urbatsch.
„Wissenschaftler kochen auch nur mit Wasser“
Ist die Ehrfurcht vor der Wissenschaft also begründet? Keineswegs. Katja Urbatsch ist selbst das beste Beispiel dafür. Sie studierte als Erste aus ihrer Familie und zog von einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen nach Berlin. „Zum Anfang wusste ich noch nicht, ob ich an die Uni gehöre und gut genug bin“, erzählt Urbatsch in einem Video auf ArbeiterKind.de.
Die junge Studentin ging zunächst sogar nur in Seminare von wissenschaftlichen Mitarbeitern. Einen Professoren etwas zu fragen, hätte sie sich nicht getraut. „Doch mit der Zeit merkte ich, dass die Wissenschaftler auch nur mit Wasser kochen“, erzählt Urbatsch. Fachbegriffe hätten sich irgendwann wiederholt und man müsse auch nicht immer alles verstehen.
Nun ermutigt Urbatsch Studieninteressierte, es ihr gleich zu tun. Und damit ist sie nicht allein. Einen kleinen Überblick über Stipendien und Programme speziell für Arbeiter- oder Migrantenkinder findet ihr hier.
Aber auch vielen Akademiker-Kindern fällt der Studienstart schwer. Etwa, wenn man von sich selbst viel erwartet, aber den Stoff kaum versteht. Ebenso ist die Studienfinanzierung für Akademiker-Familien oft ein handfestes Problem. Die psychologische Beratung an der Uni und die vielen Stipendien in Deutschland stehen deshalb auch allen Studierenden offen – unabhängig von ihrem Hintergrund. Auch die kostenfreie Troubleshooter Beratung von Dein Masterplan hilft bei allen individuellen Fragen zur Bewältigung des Studiums. Zudem können die Hinweise zum konstruktiven Zweifeln am Studium weiterhelfen.